Igor, was ist Traurigkeit?

Geschrieben am Uhr

Heute war ich den ganzen Tag unglaublich traurig und ich weiss gar nicht warum. Schon beim Aufstehen merkte ich, dass dieses Gefühl wieder da war. Ich versuchte mich abzulenken, doch irgendwie gelang es mir nicht so recht. Alles erschien mir zu viel, alles nervte mich. Ich war froh, nach der Arbeit direkt in den Garten zu gehen und auf Igor zu warten.Er kam schon nach kurzer Zeit angeflogen und setzte sich auf unseren weißen, alten Gartentisch.Wie immer merkte er sofort, dass mit mir etwas nicht stimmte. "Erzähl mir, was Dein Herz so schwer macht", sagte er und schaute mich liebevoll an. "Igor, ich weiß es doch auch nicht, ich habe das Gefühl, ich versinke in Traurigkeit", murmelte ich und die Tränen schossen mir in die Augen. "Kennst Du das?", fügte ich noch hinzu. Igor wartete eine Weile ab und sah mich einfach nur an. Ich musste mir irgendwann die Nase putzen, so sehr flossen meine Tränen. Dann begann er zu sprechen.

"Ich weiß wohl, was Traurigkeit ist, denn alle Lebewesen hier auf diesem Planeten wissen, was dieses Gefühl bedeutet. Die Frage ist doch nur, was du mit ihm machst. Wenn Du die ganze Zeit dagegen ankämpfst, dann macht es dich noch müder, trauriger und verzweifelter. Wenn Du jedoch dein Gefühl anerkennst und dich darüber freust, dann hat selbst die Traurigkeit etwas Gutes." "Wie bitte, was soll daran gut sein?" "Naja", erwiderte Igor und machte wieder eine Pause. "Ich will jetzt nicht wie die ganzen Lebensratgeber von dir klingen und dir auch keine positiven Affirmationen um die Ohren hauen, die du immer im Auto hörst. Aber sieh es so, wenn Du Die Trauer kennst, dann weisst Du die Unbeschwertheit und die Fröhlichkeit noch viel mehr zu schätzen. Du weißt, wie es anders sein kann. Ist das nicht was Gutes?"

Igor flog schnell vom Tisch auf und schnappte nach einem Grashüpfer, der leider den falschen Weg durch unseren Garten genommen hatte. Mit einem grünen Beinchen, das noch aus seinem orangefarbenen Schnabel lugte, sprang er auf den Tisch und sah mich erwartungsvoll an. Dann schluckte er den Rest des Grashüpfers hinunter und mir schien, er lächelte fast schon versonnen. 

"Und jetzt?", fragte ich ihn. "Jetzt darfst du weiter traurig sein und das Gefühl genießen. Morgen sieht alles wieder anders aus!" Er nickte mir zu, breitete seine Flügel aus und flog auf unseren Dachsims. Ich musste lächeln, als ich seine schwarze Silhouette dort oben im Gegenlicht der Sonne sah.

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