Die Melodie von Angst und Scham

Geschrieben am Uhr

Es ist einer dieser Tage, an denen ich nicht weiß, wohin mit mir. Ich bin unruhig, laufe in der Wohnung hin und her. Lasse mir ein Bad ein, steige nach zwei Minuten aus der Wanne. Mache den Fernseher an und sehe die Bilder teilnahmslos an mir vorbei laufen. Wenn das das Leben ist, dann mag ich es so nicht. Im Garten sitzt Igor auf seiner Tanne und singt. Heute besingt er seinen morgendlichen Rundflug. Manchmal an so Tagen wie diesen, lässt mich diese Unschuld weinen. Ich sage ihm: „Weisst Du Igor, wie beschwingt ich wäre, wenn ich diese Angst und Scham nicht mehr hätte?“ „Welche Angst? Welche Scham“, fragt er erstaunt. Ihm sind sie fremd diese Gefühle. „Ich schäme mich. Ich schäme mich für das Glas Wein zu viel gestern Abend. Ich schäme mich für das Tanzen an der Feuerstelle. Ich schäme mich, wenn ich denke, die Nachbarn haben mich gesehen. Ich bin zu viel. Ich bin laut, ich bin unpassend, ich bin mir so oft im Nachhinein peinlich. Ich habe Angst.Ich habe Angst vor der Angst. Ich habe Angst vor mir.“

Igor sah mich lange an und schwieg. Dann flog er zu mir und setzte sich auf meine Schulter: „Das was Dir so dunkel erscheint, gehört zu Dir, wie das, was Dir hell und leicht erscheint. Du bist dabei die Symphonie des Lebens zu spielen. Und was Dir gerade als falscher Ton erscheint, ist in Wahrheit die perfekte Note in deinem Gesamtstück.Freu Dich, dass Du fühlst.Und singe,singe von deiner Angst, von deiner Scham.Ich höre dein Lied und es erfreut mich.“ Sagte es und flog zurück zu seiner Tanne.Und als Igor wieder anfing zu singen, da machte ich mein Herz und meinen Mund auf und begann zu tönen. Die Angst, sie war nicht weg. Die Scham, sie war es auch nicht. Doch ich hatte ihnen ihre eigene Note gegeben. Und gemeinsam mit Igors Melodie flogen sie hinaus in die Welt.

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