Das Sein des Lebens

Geschrieben am Uhr

„Igor, was ist eigentlich der Sinn des Lebens?“, frage ich ihn eines Morgens völlig unvermittelt.

Igor schaut, wie mir scheint, zunächst verdutzt und dann verärgert. „Woher soll ich das denn bitte wissen?“, antwortet er schnippisch, plustert sich auf und pickt auf dem Rasen herum.

Im Laufe der Zeit habe ich festgestellt, dass er das immer gerne macht, wenn er keine Antwort weiß. Ich habe mir schon überlegt, ob es sowas wie Übersprungshandlungen bei Amseln gibt, aber ich habe mich noch nicht getraut, ihn das zu fragen.

Dann fasst er sich wohl doch ein Herz, hüpft vor mich hin, blickt ernst zu mir und sagt genauso ernst: „Also erstmal muss ich Dir sagen, dass ich keinen Menschen kenne, der sich über so viele Dinge so viele unsinnige Gedanken macht. Du zerdenkst Dir Deinen kompletten Tag. Ich könnte mir ja besseres vorstellen. Junge, Junge!“ Gut, okay, da hatte er wohl Recht. Punkt für ihn (wie so oft). „Naja, aber wenn Du mich schon fragst, dann will ich dir eine Antwort geben.“ Oha! Igor machte eine kleine künstlerische Pause und schüttelte sein schwarzes Gefieder. Sein Schnabel, so schien mir, leuchtete in einem noch stärkeren Orange als je zuvor. „Der Sinn meines Lebens ist, ein Dasein zu führen, das für Andere keinen Sinn haben muss. Und für mich auch nicht.“ Moment, wie jetzt? „Was ist denn Sinn machen überhaupt? Wenn mir der Sinn nach einem Regenwurm steht, dann suche ich mir einen. Wenn mir der Sinn nach singen steht, dann singe ich einen. Und wenn mir den Sinn nach Unsinn steht, dann unsinne ich eben herum. Solltest Du auch mal versuchen, Nadine! Du sieht also: Einen wirklichen Sinn gibt es nicht. Es gibt doch nur ein Sein. Frag mich doch lieber: Igor, was ist eigentlich das Sein des Lebens?“ Igor hüpft aufgeregt vor mir auf und ab.

„Ehrlich gesagt hatte ich mit einer tiefsinnigeren Antwort gerechnet“, sage ich ihm und muss dennoch lachen. „Siehst Du, genau das meinte ich, Du zerdenkst wieder alles. Von wegen nicht tiefsinnig, tiefsinniger geht es nicht!“ Igor zwitschert empört, zwinkert mir danach aber wieder freundlich zu. „Was ist eigentlich dein Sein des Lebens?“, fragt er und fliegt im nächsten Moment davon. So ist er, mein Igor. Lässt mich mit so einer Frage alleine und tut morgen so, als ob nichts gewesen wäre. Amseln eben. Meine Amsel. Eine Antwort habe ich zumindest schon: Er ist ein großer Teil meines Lebens. Und sein Sein beflügelt meines . . .

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